Sonntag, 24. November 2024

Han-dy-lemma

Fünf Uhr drei. Mitten in der Nacht. Hektisch kippe ich den letzten Schluck Kaffee hinunter, schnappe meine gepackte Tasche und schleiche mich aus dem Haus. Die Stadtbahn wird mich zum Bahnhof bringen, von wo aus ich mich dann auf den Weg zu meinem mehrtägigen Seminar mache. Während ich strammen Schrittes zur Haltestelle gehe, verrät mir ein kurzer Blick auf die Uhr, dass mein Zeitplan exakt eingehalten wurde – keine Minute zu spät, jedoch auch Keine zu früh.

Leider! Denn als ich auf dem Weg noch nach frisch erhaltenen SMS Ausschau halten will (als ob mir jemand mitten in der Nacht eine solche schreiben sollte), offenbart mein Handy plötzlich eine bislang unbekannte Verhaltensweise: es glänzt. Jedoch nicht durch frisch aufgetragener Politurpaste sondern vielmehr durch blanke und gnadenlose Abwesenheit! Ich fühle mich in meinem Schockzustand kurz wie gelähmt. Was soll ich tun?

Variante eins: ich gehe zurück, hole mein Handy, verpasse meine Bahn und komme mit dem nächsten Anschluss grob geschätzte zwei Stunden zu spät.
Variante zwei: ich verbringe drei unbeschwerte Tage ohne portable Telefoniereinheit.
Mein Herz tendiert zu eins, mein Kopf zu Variante zwei. Nach kurzem und heftigem Kampf gewinnt letztendlich der Kopf und mies gelaunt marschiere ich weiter.

Als ich in der Stadtbahn sitze, wird mir das ganze Ausmaß meiner Misere bewusst: ich bin für drei Tage nackt, unerreichbar, unwichtig, ohne Digicam, mp3-Player, Taschenrechner, Terminkalender, E-Mail-Client, Spielekonsole und Wecker. Ein schwacher Trost: auf den Euro-Umrechner und die Weltzeituhr kann ich in München getrost verzichten.

Ich muss dringend meiner Freundin Bescheid sagen. Was wird sie sonst denken, wenn ihre SMS unbeantwortet bleiben und ich ihr nicht Bescheid gebe, dass ich gut angekommen bin?
Was ist, wenn mich meine Kollegen aufgrund dramatischer Ereignisse, welche die ganze Existenz des Unternehmens gefährden, erreichen wollen und dringend meine Expertise benötigen? Nicht, dass das jemals passiert und überhaupt auch nur annährend realistisch wäre, aber man weiß ja nie…

Verliere ich nun Freundin und Job, weil sich mein Handy auf der Kommode statt in meiner Hosentasche befindet? Ich könnte ja einfach eine SMS schreiben… Ach Mist! Tausend weitere Eventualitäten schießen mir durch den Kopf, eine beunruhigender als die andere.

Am Bahnhof angekommen freue ich mich wie noch nie in meinem Leben zuvor über die Existenz eines Münzfernsprechers, der von mir prompt dazu verwendet wird, meine Freundin aus dem Schlaf zu reißen um ihr mitzuteilen, dass ich mein Handy vergessen habe. Etwas irritiert, was ich ihr denn nun genau damit sagen will, nimmt sie den Sachverhalt mehr schlafend als wach zur Kenntnis.

Nachdem ich dann noch einem Kollegen die selbe Information auf dem Anrufbeantworter hinterlassen habe, bin ich um einiges beruhigter. Für letzteres Telefonat benötige ich jedoch drei Versuche, da sich das Nummergedächtnis der „Generation Telefonbuch“, zu deren Anhänger ich mich zähle, stark regressiv entwickelt.

Ich steige in meinen Zug und beginne, mich über mich selbst zu amüsieren. Früher ging es doch auch ohne Handy. Früher gab es beispielsweise auch kein google und dennoch hat man es meistens geschafft, die unwichtigen Fragen des Alltags beantwortet zu bekommen, auch wenn ich heute nicht mehr genau weiß, wie. Zugegeben: ganz früher ging es auch ohne Feuer, das Rad und den aufrechten Gang und trotzdem will man all das heute nicht mehr missen.

Dennoch wächst proportional zur Entfernung von zu Hause meine feste Überzeugung, dass ich drei Tage vor mir habe, die mir gut tun werden und an denen es mir an nichts fehlt – Handy hin oder her. Es wird die befreiende Telefon-Askese, eine strahlenfreie Reise ins Ich. Die telefonierenden Menschen um mich herum tun mir auf einmal nur noch leid. Wie gerne würde ich in diesem Moment meine frisch gewonnenen Erkenntnisse mit ihnen teilen!

Mir geht es so richtig gut und als ich letztendlich total entspannt am Ziel ankomme, bleibt bis Seminarbeginn noch ein klein wenig Zeit. Ich glaube, die nutze ich, um mir ein billiges Prepaid-Handy zu besorgen. Einfach nur so, zur Sicherheit….

Mit freundlicher Genehmigung von R. Krauleidis